GESCHÄFTSBERICHT 2024
GESUNDHEIT & QUALITÄT
Pflege unter der Lupe:
Was Medizinische Qualitätsindikatoren wirklich bringen
Medizinische Qualitätsindikatoren (MQI) sind in der Pflege ein heiss diskutiertes Thema. Sie sollen die Qualität der Versorgung messbar machen – aber was steckt tatsächlich dahinter? Im Gespräch mit Marion Helbling, Co-Leiterin Pflege der Gruppe im Bereich Pflegeentwicklung, beleuchten wir, warum MQIs von grosser Bedeutung sind, wie sie Pflegebetriebe unterstützen und welche Herausforderungen sie mit sich bringen.
WAS VERSTEHT MAN UNTER EINEM MEDIZINISCHEN QUALITÄTSINDIKATOR (MQI)?
Medizinische Qualitätsindikatoren sind ein Instrument, um Pflegesituationen, -ergebnisse und medizinische Aspekte datenbasiert messbar zu machen. Ziel ist es, Bereiche aufzuzeigen, in denen Pflegeteams ihre Qualität verbessern können. Das Bundesamt für Gesundheit lässt derzeit schweizweit Indikatoren wie Polymedikation, Schmerzbeurteilung (sowohl Selbstals auch Fremdeinschätzung), bewegungseinschränkende Massnahmen und Mangelernährung erheben. Weitere Indikatoren wie gesundheitliche Vorausplanung und Dekubitusprävalenz sind in Planung.
WIE HELFEN MQIS DABEI, DIE QUALITÄT IN PFLEGEEINRICHTUNGEN ZU VERBESSERN?
Im oft hektischen Pflegealltag bleibt wenig Zeit, grundlegende Prozesse zu hinterfragen. Hier bieten MQI wertvolle Orientierung: Sie ermöglichen es, Pflegedaten systematisch auszuwerten und Verbesserungsmöglichkeiten aufzudecken. Nehmen wir etwa die Polymedikation – ein hoher Wert könnte darauf hindeuten, dass das Austrittsmanagement nach einem Spitalaufenthalt optimiert werden muss. Etwa durch eine Rücksprache mit dem Hausarzt, ob alle verordneten Medikamente weiterhin notwendig sind. MQI helfen uns dabei, die richtigen Fragen zu stellen und gezielt Massnahmen zu ergreifen.
WARUM SOLLTEN SICH PFLEGEBETRIEBE MIT MQI BESCHÄFTIGEN?
Die Pflegethemen der MQI können sich auf das Wohlbefinden der Gäste auswirken – oft in einer Kette von Folgewirkungen. Ein Beispiel: Zu viele Medikamente können den Appetit beeinträchtigen, was wiederum Gewichtsverlust, Energieabbau und Muskelschwund nach sich ziehen kann. Dies erhöht das Risiko von Dekubitus, da die Mobilität eingeschränkt wird. Es ist daher essenziell, diese Indikatoren immer im Gesamtkontext zu betrachten, Fachwissen aktuell zu halten und im Team regelmässig zu reflektieren.
WELCHER MQI IST AUS IHRER SICHT BESONDERS RELEVANT?
Wir haben 2023 die Strategie für die nächsten Jahre überarbeitet und neu justiert. Neben der vollständigen Das Zusammenspiel der Indikatoren ist entscheidend, dennoch ist für mich der MQI «Bewegungseinschränkende Massnahmen» besonders aussagekräftig. Dieser Indikator spiegelt nicht nur das Pflegeverständnis wider, sondern zeigt auch die Kreativität der Pflegepersonen bei der Suche nach Alternativen, um Bewe- gungseinschränkungen so gering wie möglich zu halten – immer im Sinne der Gäste.
WAS HALTEN SIE DAVON, MQI AUCH FÜR BEWOHNER ODER ANGEHÖRIGE SICHTBAR ZU MACHEN?
Da die Daten ohnehin öffentlich zugänglich sind, sehe ich darin eine Chance. Die Veröffentlichung zeigt, dass sich ein Betrieb aktiv mit der Qualität der Pflege auseinandersetzt. Gleichzeitig schafft sie Transparenz und ermöglicht es, auch die Grenzen des Systems aufzuzeigen. Das kann Vertrauen schaffen und eine konstruktive Diskussion fördern.
Marion Helbling
Co-Leiterin Pflege
Marion Helbling, MSc in Pflege, begann ihre Laufbahn als Lernende zur Fachfrau Gesundheit (FaGe) am Kantonsspital St. Gallen und sammelte danach Erfahrung in der Spitex. Dort entdeckte sie ihre Leidenschaft für die Langzeitpflege und absolvierte berufsbegleitend den Bachelor zur Dipl. Pflegefachfrau FH. Seit 2016 ist sie bei der Tertianum Gruppe in verschiedenen Funktionen tätig. Ihre Ambition: wissenschaftlich fundiertes Wissen mit effizienten Prozessen in den Pflegealltag integrieren und Pflegestrukturen ressourcenorientiert sowie attraktiv gestalten.
«Medizinische Qualitätsindikatoren sind ein Werkzeug, das bei richtiger Anwendung die Pflegequalität nach- haltig verbessert.»
Marion Helbling
Co-Leitung Pflege
WAS SIND DIE GRÖSSTEN HERAUSFORDERUN- GEN BEI DER EINFÜHRUNG UND UMSETZUNG VON MQI IN DER PFLEGE?
Die grösste Herausforderung ist die Harmonisierung der Datenaufbereitung, da diese auf unterschiedlichen Bedarfserhebungssystemen basiert – etwa RAI und BESA. Diese Systeme stellen teils gegensätzliche Fragen, etwa: «Hat der Gast eine bewegungs- einschränkende Massnahme?» versus «Hat der Gast keine bewegungseinschränkende Massnahme?». Solche Unterschiede erschweren objektive Vergleiche und erfordern bei der Auswertung höchste Präzision, um voreilige Schlüsse zu vermeiden.
KRITIKER BEMÄNGELN, DASS DIE MESSUNG VON QUALITÄTSINDIKATOREN MEHR BÜROKRATIE SCHAFFT, ANSTATT DIE PFLEGEQUALITÄT ZU VERBESSERN. WIE SEHEN SIE DAS?
Diese Kritik ist nachvollziehbar, wenn die Daten lediglich erhoben werden, ohne daraus Massnahmen abzuleiten. Der eigentliche Nutzen von MQI liegt jedoch darin, aus den Ergebnissen gezielt Verbesserungen zu entwickeln. Dabei geht es nicht immer um eine «Senkung» eines Wertes, sondern darum, Problembereiche sichtbar zu machen – wie etwa Mangelernährung. Durch geeignete Massnahmen können solche Herausforderungen schrittweise positiv beeinflusst werden. MQI sind also ein Werkzeug, das bei richtiger Anwendung die Pflegequalität nachhaltig verbessert.
Medizinische Qualitätsindikatoren (MQI)
Medizinische Qualitätsindikatoren (MQI) sind messbare Kriterien zur Bewertung der Qualität medizinischer und pflegerischer Versorgung. Sie dienen dazu, Behandlungsund Pflegeprozesse, Patientenergebnisse und Sicherheitsstandards möglichst objektiv zu analysieren und kontinuierlich zu verbessern. MQI werden in Gesundheitswesen und Forschung eingesetzt, um die Versorgungsqualität zu überwachen, Leistungserbringer zu vergleichen und evidenzbasierte Verbesserungen zu fördern. Diese Indikatoren können jedoch die Qualität z. B. eines Pflegeheimes nie vollständig erfassen, da sie weder die gesamte Strukturoder Prozessqualität noch andere Qualitätsaspekte wie die Patientenzufriedenheit oder die Lebensqualität in den Pflegeheimen komplett abbilden können.